Wir müssen uns das Netz zurückholen

Gute Debatten würden bei Twitter überdeckt von Clickbait-getriebener Empörung, von Hass und Fake News, schreibt SPD-Chefin Saskia Esken. Und verlässt deshalb Twitter.

Foto: Ansgar Wörner

Als in den Nullerjahren die ersten Smartphones auf den Markt kamen, haben es viele von uns wohl schnell ausgeschaltet oder hektisch versucht, die Internetverbindung zu kappen, wenn man versehentlich auf einen Link getippt hatte und dadurch mobil online ging. Die Angst vor der Telefonrechnung war einfach zu groß. Schon lange sind nicht mehr teure Onlinetarife und quietschende 56-k-Modems unsere vorherrschenden Eindrücke der Netznutzung. Die Begeisterung für die neue Technik an sich rückte schnell hinter die Begeisterung für die vielen neuen Möglichkeiten und Versprechen, die gesellschaftlich mit ihr verbunden waren.

Die Emanzipation der Menschen voranbringen, sie auf Augenhöhe vernetzen und ihr Zusammenwirken demokratisieren: das waren die Ziele in den Anfängen des Netzes. 50 Jahre nach der ersten Verbindung im Internet, 30 Jahre nach dem Start des World Wide Web müssen wir feststellen, dass die gesellschaftspolitischen Ideen der Digitalität verloren gingen. Heute wird die Digitalsphäre von einigen wenigen Unternehmen und ihren kommerziellen Interessen kontrolliert. Die basisdemokratische Idee des Netzes ist schwer beschädigt, doch auch mit dem Primat der Politik ist es in zentralen Fragen der Digitalisierung nicht weit her.

Tim Berners Lee, einer der Begründer von Internet und WWW, hat uns dazu aufgerufen, uns das Netz zurückzuholen und es wieder zu dem zu machen, was auch meine Vorstellung davon ist: eine offene und dezentrale Struktur, die demokratisch gestaltet und kontrolliert ist, damit sie allen Menschen dient und nicht einigen wenigen. Die Kapitalverwertung hat das WWW kaputtgemacht.

Besonders eindrücklich kann man das bei den sozialen Netzwerken beobachten: Vordergründig dienen sie der Vernetzung von Nutzer*innen, doch in Wahrheit sind wir dort bloße Ware und auf die Summe unserer Daten, Gewohnheiten und Vorlieben reduziert. Die Ökonomie von Aufmerksamkeit und Empörung, wie wir sie heute in den sozialen Medien erleben, beschädigt unsere politische Kultur. Hass und Hetze bedrohen den gesellschaftlichen Zusammenhalt, Kampagnen zur Desinformation und Manipulation der öffentlichen Meinung gefährden unsere Demokratie. Weil der Kampf gegen diese Phänomene den ökonomischen Interessen der Plattformen widerspricht, laufen unsere Appelle zur Selbstkontrolle ebenso wie unsere Versuche der Regulierung mehr oder minder ins Leere.

Besonders krass sind diese Entwicklungen bei Twitter zu beobachten, nicht zuletzt weil die Plattform seit Jahren zum Verkauf aufgehübscht werden musste. Twitter unternimmt nichts gegen Fakeprofile, agiert im Umgang mit gemeldeten strafbaren Inhalten wie Beleidigung oder Volksverhetzung ausgesprochen nachlässig und lässt auch nach klaren Urteilen nicht von unrechtmäßigen Twitter-Sperren ab. Die angekündigte Übernahme von Twitter durch Elon Musk wird die Plattform ganz sicher nicht zu einem gemeinnützigen Unternehmen machen.

Mit jedem Tag wird mir deutlicher, dass die kommerziellen Plattformen in keiner Weise dafür geeignet sind, Menschen und ihre freien, demokratischen Gesellschaften zu stärken. Der fröhliche Diskurs mit den vielen offenen, neugierigen und respektvollen Twitter Freundinnen und -Freunden, den ich dort einmal pflegen konnte, ist leider begraben unter einer dicken Schicht von Clickbait-getriebener Empörung, oft misogynem Hass und von Fake-Accounts und Fake News. Und die Verantwortlichen unternehmen nichts dagegen. Aber in einer digitalisierten Welt braucht es öffentliche Räume für Meinungsbildung und demokratischen Diskurs, in denen wir souveräne Gestalter sind. Eine digitale Zivilgesellschaft braucht Werkzeuge, um sich privat oder zivilgesellschaftlich zu vernetzen, ohne dass ihre Akteure dabei zur Ware werden. Deshalb habe ich mich entschieden, Twitter zu verlassen. Und ich werde mich mit all meiner Kraft dafür einsetzen, dass demokratisch gestaltete digitale öffentliche Räume und Werkzeuge verfügbar werden.

Wir brauchen eine Demokratisierung der Digitalität
Die Frage nach den Strukturen und Machtverhältnissen in der digitalen Welt stellt sich auch in anderen Zusammenhängen. Der Einfluss von Google, Amazon, Facebook, Apple und Microsoft ist umfassend und geht weit übers Digitale hinaus. Ob Datenspeicherung, Informationssuche, Kommunikation oder Handel – fünf Unternehmen mit einem Marktwert von etwa sieben Billionen Dollar und monopolähnlichen Marktanteilen üben faktisch ohne jede demokratische Kontrolle massiven Einfluss auf unser Leben aus. In den USA wurden in den Dreißigerjahren vergleichbar große Unternehmen in der Ölindustrie zerschlagen – ein Schritt, der auch in Bezug auf die großen globalen Player der Digitalwirtschaft zu Recht immer wieder diskutiert wird. Denn solche monopolartigen Strukturen gefährden nicht nur die Märkte, sie gefährden auch den Fortschritt und letztlich unsere Gesellschaften.

Wo sind die innovativen Ideen, die Visionen, die die Digitalisierung in der Vergangenheit hervorgebracht hat? Wenn Profit die letzte verbliebene Antriebsfeder ist, dann sind Bitcoins die Innovation des Jahrhunderts. Doch laut einer Studie werden durch Bitcoin-Mining jährlich rund 48 Millionen Tonnen CO2 emittiert. Was ist daran innovativ?

Microsoft und Google kaufen Innovationen auf, die ihnen gefährlich werden können, und behindern damit den Wettbewerb alternativer Technologien, Ideen und Konzepte. Die Marktbeherrschung durch Facebook hat zahlreiche alternative soziale Netzwerke untergehen lassen. Eine nationale Rechtsdurchsetzung gegen diese Strukturen fällt zunehmend schwer. Nicht von ungefähr sagt Peter Thiel, milliardenschwerer Investor der Digitalwirtschaft, Wettbewerb sei etwas für Verlierer und der wahre Erfolg verwirkliche sich erst in einem Monopol.

Ein echter Paradigmenwechsel
Mit dem Digital Market Act (DMA) und dem Digital Services Act (DSA) will die Europäische Union diesen Entwicklungen entgegenwirken. Sie sind jedoch nicht ausreichend. Wir müssen die Strukturen im digitalen Raum neu ordnen. Der Mehrwert der Digitalisierung kommt aktuell nur einigen wenigen zugute, nicht den vielen und nicht der Gesellschaft. Große Konzerne schöpfen die Gewinne der Digitalisierung ab. Zudem wurden der öffentlichen Hand in den letzten zehn Jahren gut 100 Milliarden Dollar durch Steuervermeidung vorenthalten. Was wir brauchen, ist eine Demokratisierung der Digitalität, ihrer Strukturen und Lebenschancen. Wir brauchen einen echten Paradigmenwechsel, eine echte digitale Dividende für die Gesellschaft und jeden Einzelnen. Einen neuen, offenen und demokratisch kontrollierten Weg brauchen wir auch im Umgang mit Daten. Exklusive Nutzungsrechte an Daten oder Silos in Behörden stehen dem Fortschritt im Weg. Solche Datensilos nutzen nur wenigen, während das Teilen von Daten vielen nutzt, Mehrwerte erzeugt und durch Wettbewerb Innovationen schafft. Der demokratische Zugang zu Daten und Plattformen beziehungsweise deren Inhalten ist nicht weniger wichtig als der Zugang zu Strom oder Wasser. Es geht um öffentliche Daseinsvorsorge im digitalen Zeitalter.

Die Potenziale sind groß, wenn wir bereit sind, uns auf Neues einzulassen. Ich erwarte mir zum Beispiel von dem neuen Dateninstitut, das die Bundesregierung aktuell auf den Weg bringt, dass es alternative und gemeinwohlorientierte Datennutzungsformen vorantreibt. Wir müssen dafür sorgen, dass aus digitalem Fortschritt sozialer Fortschritt wird – das ist mein Anspruch an sozialdemokratische Digitalpolitik.

Egal ob es um öffentliche Räume oder Werkzeuge für die Zivilgesellschaft geht, um offene Daten oder um digitale Infrastrukturen – wir müssen die digitale Souveränität von Menschen, Wirtschaft und Gesellschaft in Europa stärken. Hier geht es um mehr als nur die Schlüsselbranchen wie Chipherstellung, IT-Sicherheit und Softwareentwicklung. Für die demokratische Gestaltung einer digitalisierten Welt braucht es digital souveräne Bürgerinnen und Bürger, die über ein Verständnis von digitaler Kultur und Technik verfügen, die die Nutzung von Daten voranbringen und die Privatheit und IT-Sicherheit als schützenswerte Güter achten. Nicht zuletzt mit Blick auf den zunehmenden internationalen Systemwettbewerb werden digitale Kompetenzen und souveräne Teilhabe für alle Bürgerinnen und Bürger überlebensnotwendig. Wir brauchen eine Strategie für mehr Souveränität und Resilienz, die technologische Innovation, demokratische Ausgestaltung und dafür notwendige Kompetenzen zusammendenkt. Gerade in Zeiten wie diesen braucht es einen aktiven und starken Staat, der die demokratische Digitalisierung als eine gesamtstaatliche Mission begreift – mit und für die Bürgerinnen und Bürger.

 

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