Schule muss sich passend für Schüler machen!

Die baden-württembergische Kultusministerin Susanne Eisenmann erklärte in einem Interview: „Nicht alle Kinder sind fürs Gymnasium geeignet.“ Richtiger ist aber der  Umkehrschluss: Nicht alle Gymnasien, nicht alle Schulen sind für Kinder geeignet. Gemeinschaftsschulen greifen das in ihrem besonderen pädagogischem Konzept auf: Denn sie setzen auf ein längeres gemeinsames Lernen und stellen dabei jede und jeden einzelnen SchülerIn in den Mittelpunkt. Beim Fachtag „Gemeinschaftsschule“ an der Altenburgschule in Stuttgart wurde fünf Jahre nach ihrer Einführung in Baden-Württemberg noch einmal deutlich, wie nötig es ist, weiter Überzeugungsarbeit für diese junge Schulart zu leisten. Über 100 Menschen tauschten sich vor Ort aus. Auf Einladung des Fritz-Erler-Forums Baden-Württemberg, des Landesbüros der Friedrich-Ebert-Stiftung und der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft hielt Saskia Esken dort folgenden Impulsvortrag:

Ziel: ein Schulsystem, das soziale Benachteiligung ausgleicht

Die großen Studien der Bildungsforschung – PISA, IQB-Ländervergleich und Meta-Studien wie die von Hattie – sie treiben die Bildungspolitik. Ist das gut? Es kommt  darauf an, was man daraus macht:

  • Eine Interpretation im vermeintlichen Sinne der Wirtschaft zielt auf den Vergleich der Leistungen den Schülerinnen und Schüler in Mathematik und Deutsch. Am Ende stellt auch die Wirtschaft selbst fest, dass es viel mehr auf die soft skills ankommt, auf die Skills des 21. Jahrhunderts, die großen vier K: Kreativität, kritisches Denken, Kommunikation, Kollaboration. Kann man das messen?
  • Die verbreitete Interpretation als Wettbewerb zwischen Nationen – welchen Sinn macht das angesichts so unterschiedlicher gesellschaftlicher Strukturen und Bedingungen? Voneinander zu lernen wäre so unendlich viel wertvoller als sich aneinander zu messen. Gleiches gilt für den Wettbewerb zwischen den deutschen Bundesländern. Der führt in der Politik viel zu oft zu einem Streit über die Systeme. Und genau in diesem ideologisch aufgeladenen Streit steckt die Gemeinschaftsschule.

Dabei wäre es so viel wichtiger, die Studien ganzheitlich, also vor allem gesellschaftspolitisch und bildungspolitisch zu interpretieren und festzustellen: In kaum einem anderen Industrieland hängt der Bildungserfolg so stark von der sozialen Herkunft ab wie in Deutschland. Und nebenbei bemerkt ist Baden-Württemberg gerade in diesem Punkt kein Vorzeigeland. In der Spitze – da sind wir Spitze. Aber im Ausgleichen von Nachteilen – da sind wir wirklich nicht gut.

Es gelingt uns ganz überwiegend nicht, dem einzelnen Kind und seinen Bedarfen hinreichend gerecht zu werden. Der IQB-Länderbericht zeigt uns ja leider im Gegenteil, dass die Nachteile der Herkunft am Ende der Grundschule noch schwerer wiegen als zu Beginn.

Anekdotisch mag dazu passen, dass mein Sohn als erster Jahrgang in Baden-Württemberg in der zweiten Klasse eine Buchpräsentation erarbeiten und vortragen sollte. Nach der ersten Aufregung waren wir Eltern uns darüber einig: 7-Jährige bekommen das besser hin als 14-Jährige, als die man zu unserer Zeit sein erstes Referat halten musste. In den Alter ist ja sowieso alles peinlich, und da vor der Klasse zu stehen und unter aller Augen zu versagen – furchtbar. Wir gingen also in der Überzeugung zum Elternabend, dass das eine gute Sache ist. Doch auf unseren Plätzen lag ein doppelseitig eng bedrucktes Infoblatt zu den Anforderungen an diese Buchpräsentation – das hätte man gut und gern in der 8. Klasse einsetzen können, aber nur am Gymnasium. Und warum hat man uns das vorgelegt? Na, weil wir die Buchpräsentation mit unseren Kindern vorbereiten sollten. Es liegt auf der Hand, dass Kinder in Haushalten, wo der Trend zum Zweitbuch sich noch nicht durchgesetzt hat, im Nachteil waren. Und unser Schulsystem gleicht diesen Nachteil nicht aus, es verstärkt ihn noch. Ganz abgesehen davon, dass gerade die Eltern einem solchen Elternabend fernbleiben, die fürchten müssen, ein solches Infoblatt nicht lesen oder zumindest nicht interpretieren zu können.

Gemeinschaftsschule als Antwort? Ein bundesweiter Vergleich

Die baden-württembergische Kultusministerin Susanne Eisenmann sagte in einem Spiegel-Interview: „Nicht alle Kinder sind fürs Gymnasium geeignet.“ Bei Twitter gab es viel Zustimmung für den Umkehrschluss: Nicht alle Gymnasien sind für Kinder geeignet.

Anders gesagt: Was wir brauchen, ist eine Schule, die sich passend für die Schüler macht, anstatt passende Schüler zu verlangen – und da sind wir mit der Gemeinschaftsschule auf einem guten Weg. Ich würde sogar so weit gehen und sagen, ihre Einrichtung war ein Meilenstein in der der Entwicklung der Bildungspolitik unseres Landes.

Mit der Einführung der Schulform Gemeinschaftsschule steht Baden-Württemberg deutschlandweit aber nicht allein. In sieben weiteren Bundesländern werden unter dem Namen Gemeinschaftsschule die Weichen auf Zukunft gestellt: in Berlin, in Nordrhein-Westfalen, im Saarland, in Sachsen, in Sachsen-Anhalt, in Schleswig-Holstein und in Thüringen.

Die Bundesländer mit dem höchsten Anteil an Gemeinschaftsschulen sind das Saarland mit 43% und Schleswig-Holstein mit 48%. In beiden Ländern wurde die Gemeinschaftsschule als zweite Schulform neben dem Gymnasium etabliert.

Dass wir uns nicht falsch verstehen: Um den Kerngedanken der Gemeinschaftsschule voll zu entfalten, wäre es sicherlich wünschenswert, die Gemeinschaftsschule als einzige Schulform zu verankern. Ich glaube aber kaum, dass wir die Hoffnung haben dürfen, dass irgendjemand sich an die Abschaffung des Gymnasiums wagt. Denn das wäre politischer Selbstmord.

In Berlin und Nordrhein-Westfalen laufen die Gemeinschaftsschulen als Modellversuch, in Sachsen erprobten seit 2006 neun Schulen das Gemeinschaftskonzept, der Schulversuch läuft derzeit aus.

Aber nicht nur quantitativ unterscheiden sich die Gemeinschaftsschulen von Land zu Land, auch ihre Ausgestaltung ist recht unterschiedlich:

Manche Konzepte begrenzen beispielsweise die Zeit des gemeinsamen Lernens. Im Saarland und Nordrhein-Westfalen wird schon ab Klasse 7 abschlussbezogen unterrichtet, in Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt ab Klasse 9. In anderen Ländern findet eine solche Aufteilung gar nicht statt. Doch auch die interne Organisation in Lerngruppen unterscheidet sich von Land zu Land und von Schule zu Schule.

Außer im Saarland, wo an Gemeinschaftsschulen keine Oberstufe vorgesehen ist,  bleibt es den Schulen in allen Bundesländern offen, eine Oberstufe einzurichten, häufig geknüpft an bestimmte Voraussetzungen. Das ist ja auch in Baden-Württemberg der Fall: Mit der Mindestzahl an Oberstufenschülern, die eine Gemeinschaftsschule aufbringen müsste, ist es den meisten eher kleinen Schulen gar nicht möglich, bis zum Abitur zu führen.

Auf dem Weg hin zur Schule, die sich passend für die Schüler macht

Insgesamt ist der gemeinsame Unterricht oder zumindest das Zusammenführen von Bildungsgängen ein wachsendes Phänomen: Nach dem letzten nationalen Bildungsbericht ist die Zahl der Schülerinnen und Schüler an Schulen mit mehreren Bildungsgängen um 15 Prozent gewachsen. Und auch die Zahl der Schülerinnen und Schüler mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf, die an Regelschulen gehen, nimmt dank der Gemeinschaftsschule langsam aber stetig zu.

Gemeinsam ist all diesen Schulen in Deutschland das besondere pädagogische Konzept: Gemeinschaftsschulen sind Schulen, die sich passend für Kinder machen. Die Schülerinnen und Schüler lernen voneinander und miteinander, auf verschiedenen Niveaus, aber immer gemeinsam. Jede und jeder Einzelne wird entsprechend seiner und ihrer Potenziale individuell gefördert und gefordert.

Gemeinschaftsschulen führen zu allen Schulabschlüssen, zumindest kann man mit ihrem Unterrichtsangebot jeden Abschluss anstreben. Es gibt keine reinen Ziffernoten, keine Klassenwiederholung und keine Abschulung, es gibt keine feste Aufteilung in nach Leistung sortierten Gruppen, sondern individualisierten Unterricht.

Man kann auch sagen: Unterschiedlichkeit wird an Gemeinschaftsschulen nicht nur angenommen, sondern unterstützt. Anders als an Schulen im gegliederten System wird hier nicht durch „Sortieren“ die Illusion einer homogenen Schülerschaft erzeugt. Vielmehr steht jede und jeder Einzelne in seiner Individualität im Vordergrund. Das kommt dem Einzelnen zugute, ist aber auch eine Chance für Integration und Inklusion, für mehr gesellschaftlichen Zusammenhalt. Denn dass wir junge Menschen in Schubladen aufteilen, die der Ständegesellschaft des 18. und 19. Jahrhunderts entspringen, das tut unserer Gesellschaft einfach nicht gut.

Andreas Schleicher, der internationale Leiter der PISA-Studie, sagt dazu: „Wenn wir Kinder des 21. Jahrhunderts von Lehrern mit einem Ausbildungsstand des 20. Jahrhunderts in einem Schulsystem unterrichten lassen, das im 19. Jahrhundert konzipiert wurde und sich seitdem nur graduell verändert hat, dann kann das nicht funktionieren.“  

Nicht zuletzt sind die Gemeinschaftsschulen sind Ganztagsschulen – mit allen Vorteilen, die das nicht nur für die Qualität des gemeinsamen Lebens und Lernens hat, sondern auch für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie und für die Karrierechancen insbesondere der Mütter.

Ein Blick nach Berlin

Immer wieder wird der Gemeinschaftsschule unterstellt, sie habe mit Leistung nichts am Hut. Wie falsch dieser Vorwurf ist und wie diese Schulart neben der Leistungsorientierung ganz nebenbei noch Nachteile der Herkunft ausgleicht, zeigt der im vergangenen Jahr erschienene Abschlussbericht zur Pilotphase der Berliner Gemeinschaftsschulen. Zum einen haben die Schülerinnen und Schüler an Berliner Gemeinschaftsschulen demnach besser gelernt als eine Vergleichsgruppe in Hamburgs Regelschulen: Die Berliner Schülerinnen und Schüler haben signifikant größere Lernzuwächse in den Schlüsselkompetenzen erreicht.

Zudem ist den Berliner Gemeinschaftsschulen ein Kunststück gelungen, von dem wir Sozialdemokraten in der Bildungspolitik träumen: Sie haben die Kompetenzentwicklung der Kinder von ihrer sozialen Herkunft entkoppelt. Kinder aus eher bildungsfernen und eher bildungsnahen Elternhäusern zeigten keinen Unterschied in der Lesekompetenz und nur geringe Unterschiede in der Orthographie. Und in der Mathematik schnitten die Schülerinnen und Schüler aus bildungsferneren Elternhäusern sogar etwas besser ab.

Diese Ergebnisse können so viel Hoffnung machen, für die Zukunft unseres Bildungssystems und die Überwindung von alt hergebrachten Disparitäten.

Um diese Ergebnisse richtig einzuordnen, muss man aber auch wissen, dass das Land Berlin ganz gezielt in Schulen mit schwierigem sozialem Umfeld investiert. Über das sogenannte Bonus-Schulprogramm erhalten Schulen, in denen mehr als die Hälfte der Schüler aus sozial schwachen Familien stammt, bis zu 100.000 Euro extra pro Jahr für die Schulsozialarbeit, die Schulbibliothek oder Theaterprojekte.

Ganz offensichtlich ist dieses Geld gut angelegt: In der vor einigen Jahren zu traurigen Berühmtheit gewordenen Rütli-Schule melden jetzt auch immer mehr „Besserverdiener-„Eltern ihre Kinder an. Ich habe die Schule vor einigen Wochen besucht und ich muss sagen: Das ist eine gute Entscheidung, die haben einfach ein großartiges pädagogisches Konzept, das Kinder stärkt.

Klares Bekenntnis der Politik notwendig

Wie kann es uns nun gelingen, noch mehr Menschen, mehr Lehrkräfte, Schulträger, Eltern vom Konzept des gemeinsamen Lernens zu überzeugen?

Ich sage: Die Politik darf nicht immer den Fehler machen, nur so lange für Konzepte zu werben, bis sie sie durchgesetzt hat. Wir Begeisterten, wir brauchen die Beständigkeit, immer wieder „Werbung“ für die Schule für alle zu machen. Und wir brauchen die Möglichkeit, systematisch Erfahrungen auszutauschen, voneinander zu lernen: Zwischen den Schulen, den Kommunen, den Bundesländern muss ein Netzwerk entstehen.

Diese gemeinsame Veranstaltungsreihe der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft mit der Friedrich-Ebert-Stiftung kann durchaus dieser Vernetzung und dem Austausch von Erfahrungen und Kompetenzen dienen … und auch dem Zusammenrücken und dem gemeinsamen Kampf für den weiteren Erfolg, aber auch den Kampf gegen die gezielte Ausblutung der Gemeinschaftsschule in Baden-Württemberg.

Diese gezielte Hetze, die Diffamierung der Gemeinschaftsschule als sogenannte „Einheitsschule“ durch die Liberalen und die Konservativen in Baden-Württemberg und insbesondere durch Kultusministerin Eisenmann – die ärgert mich zwar, aber sie überrascht mich nicht. Wofür ich überhaupt kein Verständnis aufbringen kann, was mich wirklich empört, ist dass der Koalitionspartner, dass der Ministerpräsident Winfried Kretschmann von  Bündnis 90/Die Grünen das geschehen lässt.

Gerade die Starterschulen, die eine hochengagierte Kärrnerarbeit gemacht haben, die Anfeindungen von vielen Seiten zu ertragen hatten und haben und die sich so gut entwickeln … all die großartigen Schulen, die das Wagnis des gemeinsamen Unterrichts auf sich genommen haben - die haben das nicht verdient! Ich wünsche allen Gemeinschaftsschulen, ihren Schülern und Eltern, ihren Lehrkräften und den Trägerkommunen einen starken Rücken und weiterhin viel Erfolg!

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