Orlando ist in den USA und Bristall in England

Auch Tage nach dem Blutbad in einem Club für Lesben, Schwule, Bi- und Transsexuelle in den USA bin ich noch ganz gefangen in Entsetzen und Mitgefühl. Wir wissen jetzt, dass es ein verirrter Einzeltäter ohne terroristisches Netzwerk war. Und doch ist etwas anders an dieser Einzeltat, denn sie war nicht ziellos. Sie richtete sich gegen sexuelle Orientierungen, die dem Täter offenbar verhasst waren. „Wie rückständig!“ sagen wir und halten uns für weltoffen und tolerant. Die Mitte-Studie der Universität Leipzig, die sich mit Haltungen der Deutschen zu Minderheiten, fremden Menschen, Kulturen und Religionen beschäftigt, belehrt uns eines Besseren. Jeder Vierte hält Homosexualität für „unmoralisch“ und 40% finden es „ekelhaft“, wenn Männer sich öffentlich küssen. Bereits in den 50er Jahren waren diese Vorurteile hässlich, aber heute? Man weiß doch, dass 100% von uns sich ihre sexuelle Ausrichtung gar nicht selbst aussuchen – oder wann haben Sie sich entschieden, ob Sie Männer oder Frauen lieben? Das war einfach so? Na eben.

Hinter der abscheulichen Tat von Orlando steckt also ein Einzeltäter, aber auch eine Haltung, die auch mitten unter uns verbreitet scheint. Deshalb sage ich  hier und heute: Ich freue mich, wenn ich sehe, dass zwei Menschen sich lieben und füreinander einstehen. Und Intoleranz gegenüber Homosexuellen finde ich ekelhaft.

Am 16. Juni ist meine britische Parlamentskollegin Jo Cox in Bristall ermordet worden, weil sie für den Verbleib des UK in der EU eingetreten ist und das einem nationalistischen Attentäter nicht gefallen hat. In der Bevölkerung gibt es eine kritische Distanz zur Politik, auch ein Ergebnis der Mitte-Studie. Und bei den X-gida-Demos, an manchen Stammtischen und in den sozialen Medien ergießt sich über Journalisten und über uns Politiker Geringschätzung und Hass. Man redet von Lügenpresse und Systemparteien und lässt damit geschichtsvergessen das Vokabular der Nazis wieder aufleben, ebenso wie ich Mails und Posts erhalte, in denen ich als Volks- oder Vaterlandsverräterin beschimpft werde. Ich mache mir deshalb noch keine Sorgen um mich, meine Sicherheit oder die meiner Familie. Ich mache mir Gedanken über die Stimmung in unserem Land gegenüber Minderheiten und gegenüber unserem politischen System und seinen Vertretern. Orlando ist in den USA und Bristall in England, und dennoch ist uns das nah.

 

Dieser Text ist erstmals am 24.06.2016 in ähnlicher Fassung in der wöchentlichen PolitikerInnen-Kolumne der Südwestpresse | Neckar-Chronik Horb erschienen.

 

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