Der Rücktritt von Andrea Nahles als Partei- und Fraktionsvorsitzende ist so unfair wie notwendig, aber er kommt zu früh. Die SPD benötigt einen Neubeginn, der mit dem Austausch einer einzigen Person nicht zu bewältigen ist. Ich appelliere an die Vorstände von Fraktion und Partei, Verantwortung zu übernehmen, bis zum Herbst einen solchen Neubeginn zu organisieren und dann aber auch Platz dafür zu machen.
Das Ergebnis der Europawahl war doch eine Niederlage mit Ansage. Bei den Wählern über 60 haben wir vielleicht noch über 20%, bei denen unter 30 sind wir einstellig. Wir ahnten doch längst, was @rezomusik uns noch mal klar gesagt hat:
- Gerade junge Menschen begehren auf gegen eine Politik, die Fakten ignoriert und ihre Zukunft verspielt, nur um überkommene Strukturen zu bewahren.
- Sie akzeptieren nicht, dass Niedriglöhne die soziale Schere auseinander treiben, der Sozialstaat das zulässt und auch das Bildungssystem die Perspektiven armer Kinder nicht verbessert.
- Und sie wehren sich gegen eine Politik, die „ihr“ Netz zu überwachen versucht, eine Politik, die die Kultur des Teilens, in der jede/r Urheber sein kann, nicht versteht und die sie mit Leistungsschutzrechten und upload-Filtern zum Schutz lizenzierter Werke konterkariert.
Diese jungen Menschen nehmen uns als Beschützer der Dieselbetrüger wahr, als Kohlebewahrer, als Technokraten und als Zerstörer ihrer Welt. Und man muss deutlich sagen: Wenn wir das Vertrauen dieser jungen Wähler für immer verspielen, dann ist das ein längeres „immer“ als bei den Älteren.
Ich habe für den Koalitionsvertrag geworben. Wir haben viele gute Vorhaben daraus schon umgesetzt, und doch können wir daraus keine Zustimmung generieren, nicht aus dem besseren Marketing oder aus der Erneuerung, die die Kindergrundsicherung hervorgebracht hat, das Sozialstaatskonzept oder das Bekenntnis zum Kohleausstieg - noch vor zwei Jahren undenkbar.
Wir können daraus keine Zustimmung generieren, weil die gute Arbeit überdeckt wird vom Eindruck einer wankelmütigen, hasenfüßigen Mannschaft, die Politik scheinbar nach dem Barometer betreibt und die stets das Damoklesschwert von Koalitionsbruch und Neuwahlen spürt, wenn es kritisch wird. Dazu kommt eine Union, die Tabu um Tabu bricht auf der Suche nach einem Profil, das die AfD wieder vertreibt, und der wir auf Gedeih und Verderb verbunden zu sein scheinen.
Es überrascht deshalb auch nicht, dass jetzt die Führungsfrage gestellt wird. Ich bin allerdings skeptisch, was wir mit dem „Austausch“ einzelner Personen bewirken sollen, und ich finde es obendrein grob unfair. Nach meiner festen Überzeugung sind es nicht einzelne Personen, die unsere Führung formen und ihr Bild nach außen prägen, sondern Strukturen und toxische Verhaltensmuster.
Wahrhafte Erneuerung braucht deshalb eine durchgehend neue, unverbrauchte Führungsriege, die die problematischen Strukturen und Muster noch nicht eingeübt hat und die mit Beratung von außen eine neue Führungskultur, eine neue, zeitgemäße politische Kultur etablieren kann.
Und wir brauchen klare Antworten auf die drängenden Fragen unserer Zeit:
1. Eine kompromisslos konsequente Politik für die Bewahrung von Klima und Umwelt, weil es sonst vielleicht bald keine Zukunft mehr gibt.
Das heißt: Wir müssen den Kohleausstieg bis 2030 schaffen und ihn dennoch sozialverträglich gestalten und flankieren. Wir müssen die Erneuerbaren Energien dezentral massiv ausbauen und Speichertechnologien und den Netzausbau konsequent vorantreiben. Wir müssen ein generelles Tempolimit einführen und dafür sorgen, dass alle den ÖPNV kostenlos nutzen können. Wir müssen Flugbenzin besteuern und alternative Antriebe im Schiffsverkehr fördern. Wir müssen den Dieselbetrug konsequent beenden. Wir müssen die Subventionierung von Fleisch stark zurückfahren und sie durch die Subventionierung von Gemüse und Getreide ersetzen.
2. Eine am Menschen, am Gemeinwohl und an den bürgerlichen Freiheitsrechten orientierte Gestaltung des digitalen Wandels, weil es sonst vielleicht bald keine Politik mehr braucht.
Das heißt: Wir müssen eine Digitalsteuer durchsetzen, anstatt sie auf EU-Ebene zu verhindern. Schnelles und sicheres Internet muss eine Aufgabe der Daseinsvorsorge werden. Digitale Souveränität für alle muss der Auftrag von Schulen, Volkshochschulen und Weiterbildungseinrichtungen sein. Wir müssen Datenschutz-Aufsichtsbehörden und den Verbraucherschutz mit kompetentem Personal dazu befähigen, die Menschen vor dem Missbrauch ihrer Daten, der Verletzung ihrer Privatsphäre und vor Cyber-Kriminalität zu beschützen. Die Aufrüstung der Sicherheitsbehörden und Dienste mit Cyberwaffen und immer weiter reichenden Befugnissen, die Privatsphäre und Freiheitsrechte einschränken, müssen wir kategorisch zurückweisen. Die Nutzung von Daten und Algorithmen muss transparenter werden und gesellschaftlich vereinbarten Zielen und Regeln folgen. Der Staat muss in seiner eigenen Infrastruktur von digitalen Monopolisten unabhängig werden und seine IT-Sicherheit und die der für das öffentliche Leben kritischen Infrastruktur stärken.
3. Eine kompromisslose Solidarität mit Menschen in Not und die Bekämpfung sozialer Ungleichheit durch Umverteilung, Bildung und Emanzipation, weil es sonst vielleicht bald keine Sozialdemokratie mehr braucht.
Das heißt: Die SPD muss ihre Sprachlosigkeit gegenüber einem bedingungslosen Grundeinkommen überdenken, ohne den Anspruch aufzugeben, allen Menschen ein Recht auf Arbeit und Teilhabe zuzugestehen. Die Unterstützung von Menschen in Not darf nicht zur Gängelung und Drangsal für die Vielen werden, um den Missbrauch durch die Wenigen bekämpfen wollen. Kinder brauchen die volle und bedingungslose Unterstützung des Staates, damit sie ihren Weg in ein selbstbestimmtes und erfülltes Leben finden können. Hohe Einkommen und Vermögen müssen einen höheren Beitrag zur Finanzierung von Gemeinwesen und Sozialstaat leisten. Vorstandsgehälter und Tantiemen für Aufsichtsräte dürfen nur noch bis zu einer Grenze des 300-fachen vom geringsten Vollzeit-Lohn des Unternehmens als Betriebskosten absetzbar sein. Der Mindestlohn muss massiv erhöht und danach an die Lohnentwicklung gekoppelt werden. Leiharbeit muss der festangestellten Arbeit nach 3 Monaten in Rechten und Bezahlung gleichgestellt werden. Die sachgrundlose Befristung und Projektförderung als Sachgrund müssen abgeschafft werden. Selbständige Erwerbsarbeit muss sozial und rechtlich besser abgesichert werden, der Staat muss die Interessenvertretung selbständig Erwerbstätiger fördern. Und bezahlbares Wohnen in den Städten muss wieder eine Aufgabe der Daseinsvorsorge werden, ebenso wie die Infrastruktur für ein lebenswertes Leben auf dem Land.
Kommentare
Kommentar von Sven Hemme |
Vielen Dank für die Erklärung, ich wünschte mir das mehr Genossinnen und Genossen in der Fraktion ebenfalls verstehen würden, das sie doch bitte mal für sozialdemokratische Werte einstehen.
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